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2023

Heinz Helle & Julia Weber

Heinz Helle: Wellen (Suhrkamp Verlag, 2022)

Julia Weber: Die Vermengung (Limmat Verlag, 2022)

Mit dem ZKB Schillerpreis 2023 werden ausnahmsweise zwei Bücher ausgezeichnet:

In «Die Vermengung» schreibt Julia Weber in einer offenen Textform über Mutterschaft und die Vereinbarkeit von Familie und literarischem Schreiben. Heinz Helles Ich-Erzähler im Roman «Wellen» reflektiert Vaterschaft, Geschlechterrollen und das Leben als Schriftsteller. Die autofiktionalen Bücher des Autorenpaars werden zusammen ausgezeichnet, weil sie in enger Verbindung zueinander stehen und aufeinander Bezug nehmen. Daraus ergibt sich eine faszinierende Verdoppelung der Perspektiven auf die dargestellten Figuren und verhandelten Themen. Mit unterschiedlichen Schreibverfahren und je eigenen Tonalitäten finden Julia Weber und Heinz Helle eine literarische Sprache für den Alltag.

Heinz Helle wurde 1978 geboren. Er hat in München und New York Philosophie studiert und 2016 promoviert. Von 2009 bis 2012 studierte er literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Vor Wellen veröffentlichte er die Romane Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (2014), Eigentlich müssten wir tanzen (2015) und Die Überwindung der Schwerkraft (2018), wofür er u.a. auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand.

Julia Weber, 1983 geboren, studierte nach einer Berufslehre als Fotofachangestellte von 2009 bis 2012 literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2012 gründete sie den «Literaturdienst» und war 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert». 2017 erschien ihr erster Roman Immer ist alles schön, der mit mehreren Preisen, u. a. dem Terra nova Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde.

 

Preisverleihung vom 6. Juni 2023 im Literaturhaus Zürich

Die Preisübergabe von Dr. Jörg Müller-Ganz, Präsident des Bankrats der Zürcher Kantonalbank, an Julia Weber und Heinz Helle.
Foto Dominique Meienberg

 

Laudatio

Sehr geehrte Damen und Herren,

1979 erhielt Walter Matthias Diggelmann den ersten ZKB-Schillerpreis. Dieser wird heuer also zum 44. Mal vergeben. Es ist aber das erste Mal, dass zwei Bücher ausgezeichnet werden. Es dürfte eine Ausnahme bleiben, so wie es eine Ausnahme ist, dass zwei in Zürich wohnhafte Autor*innen ihr als Ehe- und Elternpaar geteiltes Leben parallel zum Ausgangspunkt eines Buches machen. Die Vermengung von Julia Weber und Wellen von Heinz Helle bilden ein Bücherpaar. Ein solches ist viel seltener als ein Menschenpaar, erst recht eines, bei dem beide Bücher höchsten literarischen Ansprüchen genügen.

Weder Die Vermengung noch Wellen ist ein linear erzählter Roman. Beide Bücher könnte man vielleicht als Sammlung von Notaten und von Erzählfragmenten bezeichnen. Die Fülle der Themen ist so gross, dass es unmöglich ist, sie hier auszubreiten. Immer wieder zur Sprache kommt der Familienalltag mit zwei kleinen Mädchen. Das Buch der Mutter setzt ein, bevor das zweite geboren wird, schildert auf eindrückliche Weise Schwangerschaft und Geburt. Das Buch des Vaters beginnt, als dieses zweite Kind wenige Wochen alt ist und endet, als es gehen kann, wogegen die Mutter aufhört, wenn es zu sprechen beginnt. Wiederkehrendes Thema ist auch die Wohnsituation in einer Zürcher Genossenschaftssiedlung, deren Enge den Vater von einem Haus am Meer träumen lässt. Die Covid-Pandemie trägt auch noch dazu bei, dass das Zusammenwohnen zum Thema wird. Die Erzählerfiguren haben nicht nur Kinder, sondern auch Eltern, an deren Leben sie Teil haben. Sie stellen sich Fragen zu ihren Rollen als Mutter, Frau und Tochter, als Sohn, Mann und Vater. Beide Bücher zeugen vom geteilten Wunsch, im Familienalltag zu bestehen, und schildern anrührend nicht nur dessen Krisen, sondern auch dessen Glücksmomente. Sie zeugen aber auch vom Bemühen, neben dem Familienleben die von diesem bedrohte Schriftstellerexistenz aufrecht zu erhalten. Das ist zwar etwas Spezielles, doch die Frage, wie Familie und Beruf zu vereinbaren sind, beschäftigt viele Eltern, die so ihre Situation auch in dieser Hinsicht in den beiden Büchern gespiegelt finden können. Zur intensiven Selbstbefragung der Schreibenden gehört auch die Art des Schreibens. So sind die Bücher autorreflexiv und autoreflexiv.

Die Zueinandergehörigkeit der beiden Bücher ist vielfältig. Diese haben aber ihr je eigenes ästhetisches Gepräge. Ausgehend von den Titeln wollen wir das jetzt darzulegen versuchen.

In Julia Webers Buch Die Vermengung wird die Ich-Erzählerin, die Autorin ist und Julia heisst, als sie zum zweiten Mal schwanger ist, von der Angst erfasst, dass das zweite Kind dem Schreiben keinen Raum mehr lassen wird. Ein Lösungsansatz, der im Buch verhandelt wird, bietet die titelgebende «Vermengung» der Kunst mit dem Leben. Sie kommt aus der Einsicht, dass beide Bereiche sich nicht nur so stark durchdringen, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen, sondern sich auch gegenseitig bereichern. Dies wird mit einem Naturbild verdeutlicht: «Die Kunst ist ein Gewächs, eine Flechte, die über alles drüberwächst. Alles, was ich bin, alles, was ich sein kann. Das ist viel, sagt Ruth.» (S. 13)

Julia Weber setzt bei der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Alltag an, die Vermengung ist jedoch auch das Erzähl- oder Kompositionsprinzip des Texts. Dieser besteht aus verschiedenen Textsorten mit unterschiedlichen Graden der Fiktionalisierung und Literarisierung, wie tagebuchartigen Notaten, fiktiven und nicht fiktiven Briefen, Gesprächen, Zitaten und Passagen aus einem Roman. Die Romanfragmente rund um die Erzählerin Ruth, die in kursiver Schrift gesetzt sind, sind thematisch mit der Ebene verknüpft, die im Kontrast als nicht fiktional erscheint. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Motive, die auf dieser Handlungsebene bereits eingeführt sind und auf die Wahrnehmung Julias zurückgehen. So spiegelt sich in der Beschreibung der Hände einer Figur etwa die Beschreibung der Hände der Mutter. Die Verschiebungen führen auf demonstrative wie zugleich spielerische Weise vor, was passiert, wenn Erfahrungen in Literatur transformiert werden, wie Fiktion funktioniert. Die Transformation hat wiederum eine gewisse Ähnlichkeit mit den Verwandlungen Ruths, die Menschen in Tiere verwandelt, indem sie mit ihnen schläft, einem Art Alter Ego Julias, wie auch andere Figuren sich ineinander spiegeln, wenn auch ohne eindeutige Zuordnungen. In den Gesprächen, die die Erzählerin mit ihren Figuren führt, vermischen, vermengen sich Fiktion und Nichtfiktion komplett.

Die offene, fragmentierte Form und das Dialogische, das Die Vermengung über weite Strecken prägt, führt zu einer Mehrstimmigkeit und Variation des Erzählens. Den Text kennzeichnet eine suchende Bewegung, ausgehend von genauer Beobachtung werden die Fragen und Gegenstände umkreist, die neben Mutterschaft, Familie und poetologischen Überlegungen auch Geschlechterrollen, familiäre Prägungen und die weibliche Sexualität umfassen. Julia Weber gelingt es, für diese Themen von hoher Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz eine literarische Form und Sprache zu finden.

Wellen: sie gehen rauf und runter, kommen und gehen in lebendiger Monotonie. Verwegene können auf ihnen reiten.In Heinz Helles Buch findet man das alles wieder. Es ist zusammengefügt aus Abschnitten, die fast immer mit einem «Und» beginnen und immer aus einem einzigen Satz bestehen, gleichgültig, ob sie nur wenige Zeilen umfassen oder mehr als eine Buchseite. Das erlaubt, «eine Ahnung von Kontinuität zu erleben, zu spüren, was damit gemeint sein könnte, dass das Leben geschieht, voranschreitet, weitergeht wie Zeit.» (S. 47) Eine gleichmässige Wellenbewegung pulsiert durch das ganze Buch. Es hat keine Klimax, keine Peripetie. Anders als in Die Vermengung spricht das Ich durchgängig in eigener Sache. Dennoch stellt sich keine Monotonie ein, vielmehr ein Sog, eine «force tranquille» um François Mitterands Wahlkampfslogan zu zitieren. Das verdankt sich anderen Wellenbewegungen, etwa den Stimmungsschwankungen, wie wir sie alle kennen im Wechsel der Tage: mal hadert man mit der Welt und mit sich, dann ist man mit beidem wieder im Reinen. Der Schreiber beobachtet viel, es geht ihm viel durch den Kopf, Banalitäten, Signale des Körpers, Erinnerungen, Theorien. Der Krimskrams ist scheinbar nicht gefiltert und sortiert, Meinungen wechseln. Was gestern galt, wird heute in Frage gestellt. Die fortwuchernden Assoziationen werden durch die strenge Form der Einsatzabschnitte kanalisiert. Das Buch ist eine ganz eigene, staunenswerte Mischung von Wildwuchs und Artistik. Mit jedem Abschnitt steht der Schreiber – unermüdlich wie die Surfer – auf eine neue Welle, zieht Kurven, hält sich bis zum eleganten Absprung so lange als möglich oben. Das verlangt Können, Equilibristik. Das Buch in seiner Fülle nacherzählen zu wollen, fiele etwa gleich schwer wie einen durchschnittlichen Monat des eigenen Lebens. Zurück bleibt das Bild eines manchmal überforderten, oft zärtlichen Familienvaters, eines Schriftstellers, der philosophische Reflexionen nicht wichtiger nimmt als Alltagsverrichtungen, eines modernen westlichen Mannes, der sich mit dem Vorwurf quält, einem «potenziell gewalttätigen Geschlecht» anzugehören.

Die Bücher von Julia Weber und Heinz Helle verstecken ihre Nähe nicht – auch dies rechtfertigt es, sie zusammen auszuzeichnen. Neben gemeinsamen Protagonisten kommen teilweise die gleichen Szenen vor, die aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt sind. Man trifft sich gerne mit einer Freundin, A., in einem Garten. In Die Vermengung ist das einer der poetischen Räume, wie sie Julia Weber mit wenigen Strichen zu evozieren weiss. Im ironischeren Buch ihres Mannes heisst es nüchtern: «Schrebergarten». Die Bücher ergänzen und beleuchten sich gegenseitig. Liest man beide, was auf jeden Fall zu empfehlen ist, ergibt sich eine zusätzliche Mehrstimmigkeit. Beide Texte nehmen ausserdem gegenseitig aufeinander Bezug. In Die Vermengung zitiert Julia Weber etwa den Beginn von Wellen. Der letzte Abschnitt in Heinz Helles Roman beschreibt eine Schnee-Szene und endet mit dem Wort «weich» (S. 281), einem Schlüsselwort aus der Vermengung, das mit dem Entwurf einer Poetik und eines neuen Autorschaftskonzepts verbunden ist. «Und A. sagt, es gehe um das Stärken der Weichheit in der Kunst und um das langsame Abtragen des Bildes des Genies [¼].» (S. 220). Man könnte hier auch ein Votum für ein Schreiben sehen, das im Austausch und im Dialog mit anderen Schreibenden und Texten geschieht.

Liebe Julia Weber, lieber Heinz Helle, wir danken Ihnen – und auch Ihren Verlagen – für die beiden wunderbaren Bücher und gratulieren herzlich.

Bettina Braun und Dominik Müller, deutschsprachige Jury der Schweizerischen Schillerstiftung